„Mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen" (2 Tim 1,9)
Vortrag von Dr. Marianne
Schuber (Augsburg) am 11. Juni 2005
Unlängst war von
dem bekannten Satiriker Harald Schmidt ein erstaunlicher Ausspruch zu hören. Er
sagte: „Weil ich katholisch bin, empfinde ich das Leben hier als
Durchgangsstation." Das Leben – eine Durchgangsstation? Für Edith Stein
und Gertraud von Bullion war dieses Leben hier auf Erden gewiss nur eine
Durchgangsstation, die Gaskammer in Auschwitz und das Krankenlager in Isny die
letzte Station vor dem großen Ziel ihres Lebens, der Vereinigung mit Gott.
Wer sich mit den
Lebensdaten von Edith Stein und Gertraud von Bullion beschäftigt, dem können
gewisse äußere Ähnlichkeiten nicht entgehen.
Beide wurden im
Jahre 1891 im Zweiten Deutschen Kaiserreich geboren. Otto von Bismarck war 1871
die Einigung Deutschlands gelungen.
Edith Stein
begrüßte sicher die Reichsgründung – weil mit dem Edikt vom 16.4.1871 die
Gleichberechtigung der Juden nun gesetzlich verankert war.
Auch Gertraud
von Bullion, die Offizierstochter, erfüllte das Zweite Deutsche Kaiserreich mit
Stolz, was sich aus späteren Äußerungen entnehmen lässt.
Beide Frauen
wuchsen im Kreise einer großen Familie auf. Beide besuchten eine Höhere Lehranstalt.
Beim Ausbruch
des Ersten Weltkriegs meldeten sich beide aus ihrer patriotischen Haltung
heraus freiwillig zum Lazarettdienst und taten Dienst an der Front: Edith Stein
fünf Monate in einem Seuchenlazarett an der Ostfront, Gertraud von Bullion
zuerst an der Ostfront und von September 1915 bis zum Kriegsende an der
Westfront in verschiedenen Lazaretten.
Beide Frauen
strebten den Ordensberuf an. Edith Stein erreichte dieses Ziel mit über 40
Jahren, Gertraud von Bullion wurde zwar nicht, wie angestrebt,
Missionsschwester; sie blieb in Deutschland und entschied sich für ein Leben
der Nachfolge Christi mitten in der Welt, für ein Gott verschenktes Leben in
der Schönstattgemeinschaft des Apostolischen Bundes.
Beide Frauen
starben früh vollendet: Edith Stein mit 50, Gertraud von Bullion mit 38 Jahren.
Das sind aber
nur einige äußere Gemeinsamkeiten. Wenn wir nun tiefer in das Leben dieser
beiden Frauen eindringen, werden wir auf viel bedeutendere innere Gemeinsamkeiten
stoßen.
Edith Stein
wurde in Breslau geboren, der Landeshauptstadt Schlesiens. In der ursprünglich
slawischen Siedlung ließen sich im Mittelalter viele Deutsche nieder. Unter der
langen Herrschaft der Habsburger erhielt die Stadt eine deutsche Ausprägung.
1740 wurde Schlesien von Friedrich dem Großen dem Reich der Habsburger
abgerungen und dem preußischen Staat einverleibt.
Schon zur Zeit
der Habsburger hatten die Jesuiten in Breslau eine Universität gegründet, aus
der dann 1810 die berühmte „Friedrich‑Wilhelm‑Universität" hervorging, an
der die Jüdin Edith Stein studierte.
Der Anteil der
jüdischen Bevölkerung in Breslau war verhältnismäßig groß: um 1900 betrug er 5
%, bei einer Bevölkerungszahl von 400.000 Einwohnern also ca. 20.000. Es gab
mehrere Synagogen und Friedhöfe. Die Geschichte der Juden in Breslau reicht
weit zurück. Ein alter jüdischer Grabstein trägt die Jahreszahl 1203. Meist war
es ein friedliches Miteinander von Christen und Juden. Aber leider gab es auch
Zeiten, in denen die jüdischen Bewohner von Breslau lgungen ausgesetzt waren.
Ein Beispiel hierfür: Im Jahre 1453 wurden 41 Juden wegen angeblicher Hostienschändung
verbrannt.
Als Edith Stein
im Jahre 1933 den Entschluss gefasst hatte, in den Karmelorden einzutreten,
versuchte der Mann von Ediths Schwester Erna, Hans Biberstein, seine Schwägerin
von diesem Schritt abzuhalten. Mit geradezu beschwörenden Worten stellte er
Edith die Frage, ob sie denn vergessen habe, was die Christen den Juden in
Breslau einst angetan hätten. Mit großer Bitterkeit bemerkte er, dass er jedes
Mal, wenn er den Blücherplatz überquere, an den Gestank vom brennenden Fleisch
seiner jüdischen Glaubensgenossen erinnert werde.
Die Reformen
Hardenbergs hatten zur Folge, dass den Juden in Preußen 1812 die Bürgerrechte
gewährt wurden. Von der Beamten- und Militärlaufbahn blieben sie jedoch
weiterhin ausgeschlossen. Im Zweiten Deutschen Kaiserreich verbesserte sich
ihre Lage weiterhin. Viele Juden versuchten sich zu assimilieren. Sie wollten
Deutsche sein so wie alle anderen. Nicht wenige gaben den Glauben ihrer Väter
auf oder sie praktizierten ihn nicht mehr. Manche traten auch zum Christentum
über, meist zum Protestantismus. Trotzdem hielt sich im Deutschen Kaiserreich
hartnäckig ein gewisser Antisemitismus. So sagte z.B. der damals hochangesehene
Historiker Heinrich von Treitschke: „Die Juden sind unser Unglück.“
Edith Stein
wurde 1891 in eine große jüdische Familie in Breslau hineingeboren. Die Eltern
waren Siegfried und Auguste Stein. Edith war das jüngste Kind in einer großen
Kinderschar: elf Kinder, von denen sieben am Leben blieben. Der Vater war
Holzhändler. Er starb, als Edith eindreiviertel Jahre alt war. Die Mutter
übernahm das verschuldete Geschäft und brachte es durch ihren unermüdlichen
Einsatz dahin, dass bescheidener Wohlstand in der Familie einkehrte. Ihren
jüngsten beiden Töchtern Erna und Edith ermöglichte sie das
Universitätsstudium. Erna wurde Frauenärztin, und Edith entschied sich im Jahre
1911 für das Studium von Geschichte, Germanistik, Psychologie und Philosophie.
Ihr großes Interesse galt der Geschichte und der deutschen Literatur. Auch für
Politik interessierte sie sich sehr, für die volle Gleichberechtigung von Mann
und Frau trat sie vehement ein und ebenso für das Frauenstimmrecht. Sie war
Mitglied in verschiedenen Hochschulvereinigungen, so etwa im Studentinnenverein
und im Preußischen Verein für Frauenstimmrecht.
1913 wechselte
Edith Stein an die Universität Göttingen. Das Studium der Psychologie gab sie
auf; es war ihr zu wenig wissenschaftlich. Die Philosophie stand von nun an im
Mittelpunkt ihres Interesses. Professor Husserl lehrte in Göttingen die
Phänomenologie. Diese neue Wissenschaft bemühte sich um eine objektive Schau
der Dinge, der Phänomene. Es gehe darum, von der Erfahrung der Wirklichkeit zu
einem Bewusstsein dieser Wirklichkeit und damit zu einer richtigen Erkenntnis
zu gelangen. Edith Stein war gefesselt von dieser Vorgehensweise. Nun zählten
aber auch die religiösen Wirklichkeiten zu den Phänomenen und konnten nicht
einfach ausgeklammert und ignoriert werden. Edith Stein, die mit vierzehn
Jahren aufgehört hatte, den jüdischen Glauben zu praktizieren – in der großen
Familie Stein war nur die Mutter gläubige Jüdin –, musste ihnen begegnen. Zudem
lernte sie Max Scheler kennen, einen Phänomenologen, der zum katholischen
Glauben konvertiert war und mit beredten Worten z.B. die Schönheit und Erhabenheit
der katholischen Liturgie pries.
Im Januar 1915
bestand Edith Stein das Staatsexamen mit Auszeichnung.
Im selben Jahr
treffen wir sie bei einem freiwilligen Lazarettdienst in Mähren an. Als das
Lazarett aufgelöst wurde, kehrte sie im September 1915 nach Breslau zurück. Sie
arbeitete an ihrer Dissertation „Zum Problem der Einfühlung" und übernahm
1916 die Vertretung für einen erkrankten Lehrer an der Viktoriaschule, der
Schule, die sie einst als Schülerin selbst besucht hatte.
Im August 1916
wurde sie an der Universität Freiburg, an die ihr Doktorvater Husserl übergewechselt
war, mit „Summa cum laude" zum Dr. phil. promoviert.
Die folgenden
zwei Jahre verbrachte Edith Stein in Freiburg als wissenschaftliche Assistentin
von Edmund Husserl. Bloße Assistententätigkeit konnte sie jedoch auf die Dauer
nicht befriedigen. Ihr Ziel war es, sich selber an der Universität zu
habilitieren, und so arbeitete sie an ihrer Habilitationsschrift. Doch alle
Habilitationsbemühungen scheiterten. Die Barrieren waren zu hoch. Sie war eine
Frau und dazu noch Jüdin.
Fassen wir
zusammen:
Wir haben in
Edith Stein eine hochbegabte junge Frau jüdischer Abstammung vor uns, die ihr Universitätsstudium
sehr erfolgreich abgeschlossen hat. Alle Bemühungen, die Universitätslaufbahn
selbst zu beschreiten, scheiterten jedoch. Sie musste nun hinsichtlich der
Gestaltung ihres weiteren Lebensweges Entscheidungen treffen.
Gertraud von
Bullion wuchs ebenfalls in einer kinderreichen Familie auf. Ihr Vater, Arthur
Graf von Bullion, war Offizier. Er stammte von einem alten französischen
Adelsgeschlecht ab. Julius Graf von Bullion, der Bruder von Graf Arthur,
verfasste im Jahre 1922 eine Familiengeschichte als Geburtstagsgeschenk für den
Senior der Familie. In langjähriger Quellenforschung wies er nach, dass das
Geschlecht derer von Bullion einst in der Auvergne, im Departement Puy de Dome,
beheimatet war.
Die ersten
namentlich Genannten sind zwei Brüder: Testard und Gerard de Bulhon (1060). Das
Geschlecht der Grafen von Bulhon teilte sich früh auf in einen Zweig der
Auvergne und in einen burgundischen Zweig.
Der erstere
erlosch mit der Französischen Revolution; ein Mitglied des burgundischen
Zweiges hatte 1809 Zuflucht im Königreich Württemberg gesucht.
Guy Heinrich
Joseph Albert Arthur Graf von Bullion wurde am 19.7.1852 in Zwiefalten in
Württemberg geboren. Er durchlief die Laufbahn eines Offiziers. Am 18.12.1895
treffen wir ihn als „Hauptmann im Stabe des kgl. Feld-Artillerieregiments"
in Augsburg an. 1905 wurde er hier zum Oberstleutnant z. D. und
Bezirkskommandeur befördert. Augsburg war seit 1806 Garnisonsstadt.
Arthur Graf von
Bullion war mit Maria Theresia Hubertine Startz, der Tochter eines Weingroßhändlers
aus Aachen in der Rheinprovinz Preußen, verheiratet.
Mit seiner Frau,
zwei Söhnen und drei Töchtern bezog Arthur Graf von Bullion im Jahre 1897 eine
große Wohnung im sogenannten Kellerhaus am heutigen Hohen Weg Nr. 8 in Augsburg.
Die Tochter
Maria Wilhelmine Johanna Gertraud war als viertes von sechs Kindern am 11. 9.
1891 in Würzburg zur Welt gekommen. Sie besuchte von 1897 bis 1906 die Höhere
Mädchenschule der Englischen Fräulein in Augsburg. Diese lag in der Nähe der
elterlichen Wohnung. Anschließend schickten die Eltern sie zur Abrundung ihrer
Bildung auf drei ausländische Internate: das „Sacré-Coeur in Riedenburg"
bei Bregenz, Österreich, danach ins „Sacré-Coeur Fontaine l'Evêque" in
Belgien und anschließend nach England zum „Convent of Sacred Heart" in Leamington.
Hier erhielt das
junge Mädchen sozusagen den letzten Schliff. Gertraud wusste nun, wie sich eine
gebildete „höhere Tochter" zu benehmen hat, sie sprach und korrespondierte
in Französisch, lernte die englische Sprache, spielte Klavier, konnte sehr
schön singen – ihr glockenreiner Sopran wird mehrmals lobend erwähnt –, spielte
Theater, konnte zeichnen und malen; und natürlich beherrschte sie auch
verschiedene Handarbeitstechniken.
Im Jahre 1909
ins Elternhaus zurückgekehrt, wurde sie nun in die Gesellschaft eingeführt. Der
Vater hielt Ausschau nach einem geeigneten Mann für die groß gewachsene,
hübsche und gebildete Tochter. Und bald stellten sich auch Bewerber ein.
Gertraud aber zeigte sich dem Wunsche ihres Vaters gegenüber abgeneigt. Sie
wollte Missionsschwester werden. Diesem Wunsch der Tochter stand der Vater
jedoch ablehnend gegenüber. Graf Arthur war zwar katholisch, aber er
praktizierte seinen Glauben nicht. Er hatte eine völlig andere Vorstellung
hinsichtlich der Zukunft seiner Tochter. Auch eine Berufsausbildung, etwa auf
musikalischer Ebene, die Gertraud erwogen hatte, kam für den Grafen allem
Anschein nach nicht in Frage. Die beiden Schwestern Irma und Hedwig zeigten
sich da gefügiger. Irma heiratete 1913 den Leutnant Alfred Jodl; die jüngere
Schwester Hedwig, der Gertraud in tiefer geschwisterlicher Liebe ihr ganzes
Leben lang verbunden war, ehelichte im Jahre 1914 den 22 Jahre älteren
Freiherrn von Lupin.
So blieb
Gertraud bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu Hause in Augsburg, in der
elterlichen Wohnung in der Nähe des Domes.
Die Erziehung bei den Englischen
Fräulein schien Gertraud in religiöser Hinsicht tief geprägt zu haben.
Besonders groß
war wohl der Einfluss ihres Religionslehrers Anton Hauser.
Hauser, geb.
1840, war von 1868 bis zu seinem Tode 1913 als Religionslehrer bei den
Englischen Fräulein in Augsburg tätig. Auf seine Initiative hin entstanden in
Augsburg und Haunstetten zwei „Christlich-soziale Arbeitervereine". Mit
großer Sorge verfolgte er das Anwachsen der Sozialdemokratie. Den Zweck von
katholischen Arbeitervereinen sah er in wirtschaftlicher Unterstützung der
Arbeiter durch Kranken- und Sterbekassen, in religiös-sittlicher Unterweisung
und in einer guten Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern. Hauser war Begründer
des „Katholischen Arbeitervereins" der Diözese Augsburg und von 1896 bis
1908 dessen Präses.
Die Jahre 1909
bis 1914 verbrachte Gertraud zu Hause. In dieser Zeit sehen wir sie jeden
Morgen in der Frühmesse bei den Kapuzinern von St. Sebastian. In England hatte
sie sich angewöhnt, jeden Tag zur heiligen Kommunion zu gehen. Hier war sie
auch Mitglied der „Marianischen Kongregation" geworden: Sie wählte sich
nur ein einziges Wort als Wahlspruch: „Serviam“ – die Königsdivise –, „Dienen
will ich".
Einmal äußerte
sie sich dahingehend, dass es eine individualistische und eine sozial gefärbte
Frömmigkeit gebe, und sie stellte fest: „Unsere muss sozial gefärbt sein.“ In
St. Sebastian in Augsburg schloss sie, die adlige Grafentochter, sich einer Kongregation
an, die sich überwiegend aus Dienstmädchen und Arbeiterinnen zusammensetzte.
Dürfen wir in ihrem Wahlspruch und ihrem Anschluss an eine Kongregation von
jungen Frauen, die nicht Mitglied ihres Standes sind, vielleicht noch den
Einfluss von Anton Hauser sehen?
Auch der Rat
ihres Beichtvaters, des Kapuzinerpaters Facundus Bilz, sollte nicht außer Acht
gelassen werden.
P. Facundus war
1878 in München geboren. Nach Besuch eines Gymnasiums trat er in den
Kapuzinerorden ein. Von 1908 bis 1911 wirkte er im Kapuzinerkloster St.
Sebastian in Augsburg. Sein Aufgabengebiet könnte man mit
„Großstadtseelsorge" umschreiben.
Wenn Gertraud
jeden Morgen zur Frühmesse nach St. Sebastian ging, wurde sie manchmal von der
langjährigen Haushälterin der Familie, Fräulein Betz aus Regensburg, begleitet.
Diese berichtet, dass sie und Gertraud Pater Facundus oft als den „guten
Schnee“ bezeichneten, weil er so rein wie Schnee gewesen sei und die Gottesnähe
dieses frommen Priesters spürbar war.
Die beiden
Frauen hatten auch die Erlaubnis erhalten, den Antonius- und den
Muttergottesaltar in St. Sebastian zu schmücken, eine Aufgabe, die Gertraud bei
ihrer großen Liebe zu den Blumen voller Freude übernahm. In der Kongregation in
St. Sebastian arbeitete sie sehr aktiv mit.
Warum Gertraud
fünf wertvolle Jugendjahre zu Hause verbrachte, wissen wir nicht.
Möglicherweise fehlte für die angestrebte Berufsausbildung das Geld. Die Offiziersausbildung der beiden Söhne war
kostspielig, und wahrscheinlich verursachten auch die Beschaffung der Aussteuer
und das Ausrichten der Hochzeiten der beiden Töchter Irma und Hedwig erhebliche
Kosten. Vielleicht sah sich Gertraud vor die Notwendigkeit gestellt, der
kränkelnden Mutter zur Hand zu gehen. Den Gedanken an ein Ordensleben in der
Mission hatte sie jedenfalls nicht aufgegeben, sondern nur aufgeschoben, wie
wir aus späteren Äußerungen wissen.
Als im August
1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wollte die Offizierstochter auch ihren
Dienst für das Vaterland leisten. Die beiden Brüder und der Onkel Julius
standen als Offiziere im Feld; der Vater nahm nicht mehr aktiv am
Kriegsgeschehen teil. Gertraud
unterzog sich zunächst in Augsburg der Ausbildung zur Pflegeschwester. 1915
leistete sie zuerst Bahnhofsdienst in Ulm und Augsburg; dann begleitete sie Lazarettzüge
von der Ostfront. Sie sah die ersten Kreuze für die gefallenen deutschen
Soldaten errichtet und sprach von deren „selbstlosem Heldentum". Vom
September 1915 bis Kriegsende im November 1918 tat sie dann Dienst in
verschiedenen Lazaretten an der Westfront.
Wie schwer
dieser Lazarettdienst war, davon können wir uns heute kaum mehr eine
Vorstellung machen. Die Verwundeten kamen oft direkt vom Verbandplatz in das
Lazarett. Hören wir Gertraud selbst. Sie ist noch nicht mal zwei Wochen im
Lazarett in Cambrai:
„Als ich mit
noch einer Schwester am 25. (September 1915) abends 9 Uhr heim ins Quartier
gehen wollte, wurde eben ein Transport von ca. 100 bis 120 Verwundeten
gemeldet. Niemand war da, sie in Empfang zu nehmen. Rasch entschlossen stellten
wir uns zur Verfügung; wir hatten gut daran getan. Gegen 110 Mann kamen in der
Zeit zwischen 11 und 2 Uhr, aber in welchem Zustand, durchnässt, von oben bis unten
voll Lehm, durchblutet, größtenteils nur mit Notverbänden. Ach, und wie dankbar
waren die Leute für den kleinsten Griff, die kleinste Hilfe. Soweit es möglich
war, wuschen wir die Armen, gaben allen zu essen und zu trinken, verbanden die
schlimmsten und legten sie, solange wir noch Betten hatten, in Betten, dann auf
Strohsäcke und Decken auf den Boden. Es war das erste Mal, dass wir die
Verwundeten direkt vom Verbandplatz bekamen, und noch heute sind mir diese
traurigen Gestalten und der Geruch der frischen Wunden gegenwärtig" (45
f.). Zeitweilig übertrug man ihr auch die Betreuung erblindeter oder auch
nervenkranker Soldaten. Hier bedurfte es eines großen Einfühlungsvermögens.
Neun Monate versah sie den gefürchteten Dienst in der Wäschekammer, vielleicht
liegt hier auch der Keim zu ihrer späteren Krankheit.
Neben der Sorge
für die Verwundeten lag ihr ganz besonders deren seelisches Heil am Herzen. So
half sie dem Feldgeistlichen bei der Vorbereitung und Gestaltung der
Gottesdienste, richtete im jeweiligen Lazarett mit Freuden eine kleine Kapelle
ein, wenn dies möglich war, und organisierte einen Schwesternchor. Manchmal
schlossen sich auch verwundete Soldaten und Sanitäter diesem Chor an. Auf diese
Weise kam sie mit Frater Salzhuber in Kontakt und auch mit Nikolaus Lauer,
einem späteren Schönstattpriester, Schriftsteller und Redakteur der Speyerer Kirchenzeitung,
dem sie zeitlebens verbunden blieb. (Er kannte auch Edith Stein gut; er war
Religionslehrer am Magdalenen-Gymnasium in Speyer und somit ihr Kollege.)
Von diesen
Männern hörte Gertraud von Bullion zum ersten Mal von Pater Kentenich und dem
Gründungsereignis von Schönstatt und seiner Idee der religiös-sittlichen
Erneuerung.
Vier Jahre sind
lang; aber Gertraud hielt durch; schließlich war sie ja eine Offizierstochter.
„Ehrfurcht vor
Gott, gläubiger Sinn, ernste Lebensauffassung, Liebe zum Vaterland und zur
Volksgemeinschaft", solche Eigenschaften erwartete beispielsweise
Generalleutnant Danner bei einer Jubiläumsansprache anlässlich eines Augsburger
Garnisonstages von der deutschen Jugend. Gertraud wies diese erwünschten
Eigenschaften in einem reichen Maße auf.
Nach Kriegsende
kehrte sie in das Elternhaus zurück. Die Nachkriegszeit brachte große Schwierigkeiten
für die Grafenfamilie von Bullion. Die Mutter war bereits 1916 gestorben. Die
beiden Brüder hatten ihren Dienst quittiert. Der ältere Bruder Gottfried lag
krank darnieder; er hatte sich im Feld ein Lungenleiden geholt. Gertraud
pflegte ihn und später den leidenden Vater zusammen mit der getreuen Haushälterin
Betz.
Mit dem Ende des
Ersten Weltkrieges war die alte ständische Ordnung dahin. In Bayern rief im
November 1918 Kurt Eisner den „Freien Volksstaat Bayern" aus. König Ludwig
III. musste fliehen. Bayern war Republik geworden. An der Spitze des Staates
stand nun ein „Arbeiter- und Soldatenrat". Kurt Eisner wurde im Februar 1919
erschossen. Daraufhin brach vielerorts das Chaos aus – so auch in Augsburg.
Der damalige
Bischof Maximilian von Lingg – er war Bischof in Augsburg von 1902 bis 1930; Gertraud
wurde von ihm gefirmt – musste um sein Leben fürchten. Die Ermordung von Kurt
Eisner sollte an ihm gerächt werden. Der Pöbel erstürmte das Bischofspalais und
suchte den Bischof zu ergreifen. Dieser konnte der brutalen Gewalt nur dadurch
entkommen, indem er in der Kleidung seines Schwagers durch eine Hintertür das
Bischofspalais verließ und zunächst Zuflucht im Augsburger Vincentinum und
später in St. Ottilien suchte. Die Wohnung der Familie von Bullion befand sich
in allernächster Nähe. Gertraud hat sicher die grölenden Plünderer gesehen, die
sich gewaltsam Zugang zum Bischofspalais verschafften und den Bischof an der
nächsten Laterne aufknüpfen wollten.
Bischof von
Lingg hatte im November 1918 ein Wort der Weisung erlassen, in dem Sätze wie
diese zu lesen waren: „Niemand kann im Ernste von uns verlangen, dass wir das
Neue, auf dessen Boden wir uns um des Vaterlandes willen stellen, auch mit dem
Herzen begrüßen."
Mit dem Herzen
begrüßen konnte die Familie von Bullion die Weimarer Republik wohl nicht, auch
Gertraud nicht. In einem Brief vom 5. Dezember 1919 an Lauer schrieb sie:
„Wissen Sie, dass sich in München eine bayerische Königspartei gebildet hat,
die hauptsächlich ihre Mitglieder in Franken und auf dem Land gesammelt hat?
Ich fürchte, es ist zu früh, so sehr ich mich freuen möchte" (74).
Julius Graf von
Bullion schrieb im Vorwort seiner Familiengeschichte: „Wiewohl der Adel im
Staate keinen bevorzugten Stand mehr bildet, seine früheren Vorrechte längst
verloren hat und ihm vielfach sogar die Führung des ererbten und berechtigten
Adelstitels untersagt ist, so kann sich ein adeliges Geschlecht doch auch
fernerhin in Ansehen und Ehren erhalten, wenn es durch Betätigung wahrhaft
adeliger Gesinnung, durch Rechtschaffenheit und Bildung den anderen Ständen
voranleuchtet im Dienste für die Allgemeinheit und den Staat."
Die
Standesvorrechte waren dahin, und auch die finanzielle Situation der Familie
von Bullion schien in den Nachkriegsjahren mit der Wertlosigkeit von
Kriegsanleihen und der Inflation prekär geworden zu sein. Wie sehr hatten sich
doch die Zeiten geändert! Lassen wir einen Zeitzeugen, den Dichter Peter Dörfler,
zu Wort kommen. Im Kloster St. Ottilien hielt er 1928 eine Predigt anlässlich
des Silberjubiläums seines Weihejahrgangs vom Jahr 1903:
„Nicht dass wir
der Vergänglichkeit Zeugen sein durften war das Eigene unserer Tage, sondern
wir sind Zeugen einer Zeitenwende, wir, die wir 1914, 1918 sahen... Welch neuer
Geist hat unsere Jugend, unsere Männer und Frauen ergriffen. Wie ist das
Heilige überall verödet, nicht das Gold der Altäre, nicht der Besitz
ehrwürdiger Kultstätten wie ehedem: eine Säkularisierung der Volksseele des
Abendlandes hat eingesetzt... Die Säkularisierung wirkt anonym und nimmt mit
schleichender Hand Sitte um Sitte weg, christlichen Gruß, christlichen Schmuck
der Stube, des Wegrains, und sie arbeitet so still und unauffällig, dass man
sich rückschauend wundert, was alles bis in die Sprache des Volkes hinein
profaniert worden ist. Im Zeichen einer Wende stehen wir."
Im Zeichen einer
Wende stehen wir. Gertraud hatte schon in den letzten Monaten an der Front
davon gesprochen, wie viele Menschen sich zu ihrem Nachteil verändert hätten,
was nun in der Nachkriegszeit offen zutage trat. Egoismus und Gewinnsucht waren
allzu oft die Triebfedern des Handelns vieler. „Serviam" – ich will dienen
–, so aber lautete ihr Wahlspruch. Gertraud wollte zu einer positiven
Gestaltung dieser Wende beitragen.
Im Jahre 1923
erlag der Bruder Gottfried seiner Krankheit. Gertraud stand der Witwe, ihrer
Schwägerin, zur Seite und kümmerte sich auch sehr intensiv um ihre
Lieblingsschwester Hedwig, die daran litt, dass ihre Ehe kinderlos blieb. 1921
legte Gertraud noch die Diplomprüfung als Krankenschwester ab und musste vor
allem wegen der Pflege des kranken Vaters ihr Vorhaben, in die Mission zu
gehen, auf eine spätere Zeit verschieben. Dem Augsburger Dompfarrer half sie
mit großem Einsatz bei der Vorbereitung der monatlichen Standeskommunionen
junger Frauen.
Und immer mehr
erwärmte sie sich für die Schönstatt-Bewegung, die bisher nur Männern offen
stand. Die Verbindung zu Frater Salzhuber, dem einstigen Sanitäter von der
Westfront, war nie abgerissen, und so erfuhr sie im August 1919 von der
Gründung des Apostolischen Bundes in Hörde. Sie schrieb an Pater Kentenich und
ersuchte ihn, die Aufnahme von Frauen in den „Apostolischen Bund" in die
Wege zu leiten. Es war ihr erklärter Wunsch, dass Frauen in die Apostolische
Bewegung aufgenommen wurden. Am 8. Dezember 1920 erfolgte ihre Aufnahme und die
ihrer Kusine Marie Christmann.
Dieser Tag gilt
als der Gründungstag der Schönstatter Frauenbewegung.
Gertraud
glaubte, nun ihre Lebensaufgabe gefunden zu haben. Apostolat der Frauen, mitten
in der Welt leben, an der Hand Mariens intensive Nachfolge Jesu, dafür wollte
sie sich, eine noch junge Frau von 29 Jahren, von nun an mit der ganzen Kraft
ihres Verstandes und Herzens einsetzen.
Doch da traf sie
das Kreuz mit seiner ganzen Schwere. Es zeigten sich die ersten Anzeichen einer
schweren Erkrankung der Lunge. 1921 unterzog sie sich für mehrere Monate einer
Kur in Bad Lippspringe. Sie musste lange Liegekuren auf sich nehmen und wäre
doch so gerne tatkräftig in ihr neues Aufgabengebiet, die Schönstatt-Bewegung,
eingestiegen. Während dieser Kur fuhr sie im August 1921 zur ersten Frauentagung
nach Schönstatt.
In Edith Stein
hatte sich ungefähr zur gleichen Zeit ein großer Wandel vollzogen. Am 1. Januar
1922 wurde sie in der katholischen Kirche in Bergzabern in der Pfalz getauft.
Was hatte sie, die Jüdin, die bisher bei Angaben betreffs ihrer
Religionszugehörigkeit seit ihrer Schulzeit „ohne Konfession" geschrieben
hatte, dazu bewogen, katholisch zu werden?
In den
Sommerferien 1921 treffen wir sie im Haus ihrer Freundin Hedwig Konrad-Martius
an. Bei diesem Besuch fiel ihr ein Buch über das Leben der heiligen Theresia in
die Hand. In diesem Buch wird das Leben der Heiligen, vor allem ihr Weg zu
Gott, beschrieben. Dieses Buch beeindruckte Edith Stein zutiefst. Sie schreibt,
dass es ihrem langen Suchen nach dem wahren Glauben ein Ende gemacht habe.
Schon vorher war ihr das Christentum aufgeleuchtet. Zunächst in den Worten des
Philosophen Scheler, der von einer ungemeinen Begeisterung für die katholische
Kirche erfüllt war. Dann aber vor allem in der Begegnung mit Anne Reinach.
Deren Mann Adolf Reinach, ein Kollege von Edith Stein, den sie sehr schätzte,
war 1917 an der Westfront gefallen. Professor Husserl bat Edith Stein, den
philosophischen Nachlass von Reinach zu ordnen. Ihr graute vor der Begegnung
mit einer wohl verzweifelten jungen Witwe. Und dann musste sie erleben, wie
Anne Reinach, eine gläubige Protestantin, den Tod des geliebten Mannes in der
Kraft des Kreuzes mit großer Gefasstheit ertrug. Edith war zutiefst von der
Kraft dieses Glaubens beeindruckt.
Am 1. Januar
1922 wurde Edith auf den Namen Edith Theresia Hedwig getauft. Am folgenden Tag
empfing sie die erste heilige Kommunion. Einen Monat später wurde sie gefirmt.
Nun wollte sie, nach dem Vorbild der großen Theresia, in ein Karmelkloster
eintreten.
Ihre geistlichen
Berater aber waren der Meinung, dass es besser wäre, diesen Schritt aus zwei
Gründen zurückzustellen. Einmal sollte sie ihrer betagten Mutter diesen Schmerz
ersparen. Schon bei der Konversion ihrer geliebten jüngsten Tochter zum
katholischen Glauben, und damit dem Abfall vom Glauben der Väter, war sie, die
ansonsten so starke Frau, die man nie hatte weinen sehen, in Tränen ausgebrochen.
Zum andern sei es nötig, zunächst einmal in der katholischen Welt „heimisch“ zu
werden. So nahm sie eine Stelle als Lehrerin am Mädchenlyzeum und an der
Lehrerinnenbildungsanstalt der Dominikanerinnen von St. Magdalena in Speyer an.
Von 1923 bis 1931 unterrichtete sie hier Deutsch und Geschichte. Daneben hielt
sie in verschiedenen Städten Vorträge. Den Schwerpunkt bildete hierbei das
Thema „Frauenbildung". Auch bei den Salzburger Hochschulwochen treffen wir
sie als Gastrednerin an. Sie übersetzte auch die „Questiones" des Thomas
von Aquin. 1932 nahm sie einen Ruf als Dozentin an das „Deutsche Institut für
wissenschaftliche Pädagogik" in Münster an.
Im April 1933
wurde sie, die Jüdin, durch einen Regierungserlass aus dieser Stellung
entlassen. Nun konnte sie endlich ihren großen Wunsch verwirklichen: Sie trat
in den Karmel zu Köln ein. Am 15. April 1933 wurde sie als „Schwester Benedicta
a Cruce" eingekleidet.1935 legte sie die zeitlichen Gelübde ab, 1938 die
ewigen Gelübde. Um den Orden in Köln nicht zu gefährden, denn für die Nazis war
und blieb sie Jüdin, übersiedelte sie am 31. Dezember 1938 in das
Karmelitinnenkloster zu Echt in den Niederlanden. Hier fand sie Zeit für ihre
wichtige Schrift: „Endliches und Ewiges Sein".
Am 26. Juli 1942
verlas man in den niederländischen katholischen Kirchen einen Hirtenbrief der
niederländischen Bischöfe, in welchem diese die Deportation der holländischen
Juden verurteilten. Als Vergeltungsmaßnahme wurden eine Woche später, am 2. August
1942, alle Katholiken jüdischer Abstammung verhaftet und in das Durchgangslager
Amersfort und am 4. August nach Westerbork verbracht. Am 7. August erfolgte
deren Deportation mittels eines Güterzuges nach Auschwitz. Mit größter
Wahrscheinlichkeit wurden die ca. 900 Deportierten, darunter Edith Stein und
ihre Schwester Rosa, nach der Ankunft des Zuges am 9. August im
Vernichtungslager Birkenau vergast.
Edith Stein
hatte in ihrem Testament ihr Ja zu dem Tode gesagt, den Gott ihr auferlegen
würde. „Benedicta a Cruce" – die vom Kreuz Gesegnete, diesen Namen hatte
sie sich erwählt. Sie bot Gott ihr Leben an, damit er dafür das Kreuz von ihrem
jüdischen Volke nehmen und es ihr aufladen möge. Sie liebte ihr Volk von ganzem
Herzen. „Er (Jesus) ist deines Blutes", sagte sie sich oft vor dem
Tabernakel. Wie Jesus gehörte auch Maria dem jüdischen Volk an, und dies bedeutete
ihr unendlich viel.
Auch Gertraud
von Bullion bot Gott ihr Leben an. Ihr ging es um das Ziel der Schönstatt-Bewegung,
die religiöse Erneuerung. 1922 brach ihre Krankheit erneut aus: vom Februar bis
zum Oktober weilte sie zur Kur in Schömberg im Schwarzwald. In den nächsten
drei Jahren hatte es den Anschein, dass Gertraud ihre Krankheit meistern
könnte. Es waren Jahre großer Schaffenskraft, Jahre des Aufbaus der
Schönstatt-Frauenbewegung. Wiederholt weilte sie in Schönstatt, um an
verschiedenen Tagungen teilzunehmen. 1925 weihte sie sich, zusammen mit 19
anderen Frauen, auf ewig der Gottesmutter von Schönstatt.
Im Januar 1926
erlag der Vater, Arthur Graf von Bullion, seinem Herzleiden. Bei Gertraud kam
es zu einem weiteren Krankheitsschub. Wiederum musste sie für Monate das
Sanatorium in Schömberg aufsuchen. Am 9. Juni 1927 war es ihr trotzdem möglich,
an der Grundsteinlegung des Bundesheimes in Schönstatt teilzunehmen, im August
1928 an dessen Einweihung. Ostern 1929 weilte sie das letzte Mal in Schönstatt.
Im August 1929
musste sie das Krankenhaus in Geislingen aufsuchen, danach kehrte sie zu einem
kurzen letzten Besuch nach Augsburg zurück. Ab dem 1. Oktober treffen wir sie
im Krankenhaus „Wilhelmstift" in Isny an. Dieses Krankenhaus sollte sie
nun bis zu ihrem Tode nicht mehr verlassen. Ihr Zustand verschlechterte sich
zusehends. Vom Januar 1930 an hatte sie ständig hohes Fieber. Sie magerte immer
mehr ab, ihre Kräfte schwanden dahin. Sie hatte Gott ihr Leben für das Gedeihen
des Apostolischen Bundes angeboten. Besonders Bayern lag ihr sehr am Herzen. In
ihrem Heimatland hatte sich der Aufbau einer Schönstatt-Frauengemeinschaft als
sehr schwierig erwiesen. Viele Frauen waren hier in bereits bestehende Kongregationen
und Vereine eingebunden und sahen keine Notwendigkeit, sich der jungen
Schönstatt-Frauenbewegung anzuschließen. Im April 1930 erneuerte Gertraud ihre
Lebensweihe.
Nach einem
schweren Todeskampf gab sie am 11. Juni 1930 ihr Leben in Gottes Hände zurück.
Am 13. Juni 1930 wurde sie zu Grabe getragen. Nur 38 Jahre alt war sie
geworden.
Zu Beginn hörten
wir von äußeren Gemeinsamkeiten im Leben dieser beiden großen Frauen.
Wie steht es nun
um die inneren Gemeinsamkeiten? Ist der Lebensweg dieser beiden Frauen nicht
sehr verschieden? Kann man hier überhaupt von Gemeinsamkeiten sprechen?
Hier Edith
Stein: die Jüdin, die Philosophin, die Karmelitin, die in der Gaskammer von
Auschwitz endet...
Da Gertraud von
Bullion: die Offizierstochter, deren Leitmotiv „Serviam" heißt, das sie
vier Jahre im Lazarettdienst, dann in der Familie und vor allem beim Aufbau der
Schönstatt-Frauengemeinschaft zu verwirklichen sucht...
Und doch – es
bestehen tiefe innere Gemeinsamkeiten.
Schon in manchen
Charaktereigenschaften ähneln die beiden Frauen einander. Beide zeichnet eine
ungeheure Selbstdisziplin aus. Stets sind sie bereit, ihr eigenes Ich zugunsten
ihrer Mitmenschen zurückzustellen. Beide widmen sich ihren jeweiligen Aufgaben
mit beeindruckender Geradlinigkeit, mit starker Willenskraft und
Zielstrebigkeit. Beide sind persönlich anspruchslos, beide bevorzugen eine
einfache Lebensweise. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Wahl der Kleidung.
Beiden geht es darum, dass Frauen am Aufbau der Gesellschaft, am Dienst der
Kirche verantwortlich mitwirken.
Beiden Frauen
eignet ein starkes Einfühlungsvermögen.
Bei Edith Stein
fällt auf, dass sie sich sehr intensiv um ihre Geschwister, Nichten und Neffen
kümmerte, sich auf der Universität in ihre Kommilitonen und später im Karmel in
ihre Mitschwestern hineindachte. Als sich z.B. zeigte, dass sie auch in Holland
nicht sicher vor den Nazischergen war, knüpfte ihr Orden Verbindungen mit einem
Schweizer Kloster an. Man bot Edith die Aufnahme an, nicht aber ihrer Schwester
Rosa, die als Pförtnerin im Karmelkloster zu Echt Dienst tat. Doch Edith wollte
ihre Schwester Rosa nicht im Stich lassen. Und so blieb sie in Echt und schlug
damit ihre Rettung aus.
Das Studium der
Phänomenologie erwies sich hier als förderlich. Wie an früherer Stelle erwähnt,
lautete der Titel ihrer Dissertation: „Zum Problem der Einfühlung".
Was Gertraud
betrifft, so kümmerte sie sich liebevoll um die kränkelnde Mutter, den
herzkranken Vater, den dahinsiechenden Bruder. Sie war Stütze für ihre
Schwester Hedwig, die sie immer wieder anregte, sich um Bedürftige zu kümmern.
Auch beim Aufbau der Schönstatt-Frauengemeinschaft war sie für ihre
Bundesschwestern immer da. Wie groß ihr Einfühlungsvermögen war, zeigte sich
auch darin, dass man ihr bei ihrem Dienst im Lazarett „schwierige Fälle"
anvertraute. Wenn man damals etwa einem Verwundeten die Augenbinde abnahm und
diesem dann bewusst wurde, dass sein Augenlicht wohl für immer dahin war, dann
stand Gertraud an der Seite des Verzweifelten.
Doch am
wichtigsten ist wohl dies:
Beide sind
zutiefst fromme Frauen; sie leben ganz aus der Verbindung mit Gott heraus.
Beide folgen mit großer Geradlinigkeit dem Anruf Gottes: „Mit einem heiligen
Ruf hat er uns gerufen." Beide sind in inniger Gemeinschaft mit dem
eucharistischen Herrn verbunden. Beide zeichnet eine tiefe Verehrung der Mutter
Jesu aus. Und beide sehen ihr Leben in der Kreuzesnachfolge Christi: für Edith
ist es der Tod in der Gaskammer, für Gertraud das Sterbelager in Isny. Beide bieten Gott ihr Leben an: Edith für ihr
jüdisches Volk und Gertraud für die Sendung der Schönstatt-Frauenbewegung.
Und auf beide
trifft das Wort von Harald Schmidt zu: Das Leben war für sie nur eine
Durchgangsstation. „Sub specie aeternitatis" – unter dem Blickwinkel der
Ewigkeit sahen diese beiden großen Frauen ihr Leben, von denen die eine, Edith
Stein, bereits die Ehre der Altäre erreicht hat und wir dies von der anderen,
Gertraud von Bullion, erhoffen.