27 de mai. de 2012

Gertraud von Bullion und Edith Stein auf ihrem Weg des Glaubens

„Mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen" (2 Tim 1,9)

 Vortrag von Dr. Marianne Schuber (Augsburg) am 11. Juni 2005 
Unlängst war von dem bekannten Satiriker Harald Schmidt ein erstaunlicher Ausspruch zu hören. Er sagte: „Weil ich katholisch bin, empfinde ich das Leben hier als Durchgangsstation." Das Leben – eine Durchgangsstation? Für Edith Stein und Gertraud von Bullion war dieses Leben hier auf Erden gewiss nur eine Durchgangsstation, die Gaskammer in Auschwitz und das Krankenlager in Isny die letzte Station vor dem großen Ziel ihres Lebens, der Vereinigung mit Gott.

Wer sich mit den Lebensdaten von Edith Stein und Gertraud von Bullion beschäftigt, dem können gewisse äußere Ähnlichkeiten nicht entgehen.
Beide wurden im Jahre 1891 im Zweiten Deutschen Kaiserreich geboren. Otto von Bismarck war 1871 die Einigung Deutschlands gelungen.
Edith Stein begrüßte sicher die Reichsgründung – weil mit dem Edikt vom 16.4.1871 die Gleichberechtigung der Juden nun gesetzlich verankert war.
Auch Gertraud von Bullion, die Offizierstochter, erfüllte das Zweite Deutsche Kaiserreich mit Stolz, was sich aus späteren Äußerungen entnehmen lässt.
Beide Frauen wuchsen im Kreise einer großen Familie auf. Beide besuchten eine Höhere Lehranstalt.
Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldeten sich beide aus ihrer patriotischen Haltung heraus freiwillig zum Lazarettdienst und taten Dienst an der Front: Edith Stein fünf Monate in einem Seuchenlazarett an der Ostfront, Gertraud von Bullion zuerst an der Ostfront und von September 1915 bis zum Kriegsende an der Westfront in verschiedenen Lazaretten.
Beide Frauen strebten den Ordensberuf an. Edith Stein erreichte dieses Ziel mit über 40 Jahren, Gertraud von Bullion wurde zwar nicht, wie angestrebt, Missionsschwester; sie blieb in Deutschland und entschied sich für ein Leben der Nachfolge Christi mitten in der Welt, für ein Gott verschenktes Leben in der Schönstattgemeinschaft des Apostolischen Bundes.
Beide Frauen starben früh vollendet: Edith Stein mit 50, Gertraud von Bullion mit 38 Jahren.
Das sind aber nur einige äußere Gemeinsamkeiten. Wenn wir nun tiefer in das Leben dieser beiden Frauen eindringen, werden wir auf viel bedeutendere innere Gemeinsamkeiten stoßen.

Edith Stein wurde in Breslau geboren, der Landeshauptstadt Schlesiens. In der ursprünglich slawischen Siedlung ließen sich im Mittelalter viele Deutsche nieder. Unter der langen Herrschaft der Habsburger erhielt die Stadt eine deutsche Ausprägung. 1740 wurde Schlesien von Friedrich dem Großen dem Reich der Habsburger abgerungen und dem preußischen Staat einverleibt.
Schon zur Zeit der Habsburger hatten die Jesuiten in Breslau eine Universität gegründet, aus der dann 1810 die berühmte „Friedrich‑Wilhelm‑Universität" hervorging, an der die Jüdin Edith Stein studierte.
Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Breslau war verhältnismäßig groß: um 1900 betrug er 5 %, bei einer Bevölkerungszahl von 400.000 Einwohnern also ca. 20.000. Es gab mehrere Synagogen und Friedhöfe. Die Geschichte der Juden in Breslau reicht weit zurück. Ein alter jüdischer Grabstein trägt die Jahreszahl 1203. Meist war es ein friedliches Miteinander von Christen und Juden. Aber leider gab es auch Zeiten, in denen die jüdischen Bewohner von Breslau lgungen ausgesetzt waren. Ein Beispiel hierfür: Im Jahre 1453 wurden 41 Juden wegen angeblicher Hostienschändung verbrannt.

Als Edith Stein im Jahre 1933 den Entschluss gefasst hatte, in den Karmelorden einzutreten, versuchte der Mann von Ediths Schwester Erna, Hans Biberstein, seine Schwägerin von diesem Schritt abzuhalten. Mit geradezu beschwörenden Worten stellte er Edith die Frage, ob sie denn vergessen habe, was die Christen den Juden in Breslau einst angetan hätten. Mit großer Bitterkeit bemerkte er, dass er jedes Mal, wenn er den Blücherplatz überquere, an den Gestank vom brennenden Fleisch seiner jüdischen Glaubensgenossen erinnert werde.

Die Reformen Hardenbergs hatten zur Folge, dass den Juden in Preußen 1812 die Bürgerrechte gewährt wurden. Von der Beamten- und Militärlaufbahn blieben sie jedoch weiterhin ausgeschlossen. Im Zweiten Deutschen Kaiserreich verbesserte sich ihre Lage weiterhin. Viele Juden versuchten sich zu assimilieren. Sie wollten Deutsche sein so wie alle anderen. Nicht wenige gaben den Glauben ihrer Väter auf oder sie praktizierten ihn nicht mehr. Manche traten auch zum Christentum über, meist zum Protestantismus. Trotzdem hielt sich im Deutschen Kaiserreich hartnäckig ein gewisser Antisemitismus. So sagte z.B. der damals hochangesehene Historiker Heinrich von Treitschke: „Die Juden sind unser Unglück.“
Edith Stein wurde 1891 in eine große jüdische Familie in Breslau hineingeboren. Die Eltern waren Siegfried und Auguste Stein. Edith war das jüngste Kind in einer großen Kinderschar: elf Kinder, von denen sieben am Leben blieben. Der Vater war Holzhändler. Er starb, als Edith eindreiviertel Jahre alt war. Die Mutter übernahm das verschuldete Geschäft und brachte es durch ihren unermüdlichen Einsatz dahin, dass bescheidener Wohlstand in der Familie einkehrte. Ihren jüngsten beiden Töchtern Erna und Edith ermöglichte sie das Universitätsstudium. Erna wurde Frauenärztin, und Edith entschied sich im Jahre 1911 für das Studium von Geschichte, Germanistik, Psychologie und Philosophie. Ihr großes Interesse galt der Geschichte und der deutschen Literatur. Auch für Politik interessierte sie sich sehr, für die volle Gleichberechtigung von Mann und Frau trat sie vehement ein und ebenso für das Frauenstimmrecht. Sie war Mitglied in verschiedenen Hochschulvereinigungen, so etwa im Studentinnenverein und im Preußischen Verein für Frauenstimmrecht.

1913 wechselte Edith Stein an die Universität Göttingen. Das Studium der Psychologie gab sie auf; es war ihr zu wenig wissenschaftlich. Die Philosophie stand von nun an im Mittelpunkt ihres Interesses. Professor Husserl lehrte in Göttingen die Phänomenologie. Diese neue Wissenschaft bemühte sich um eine objektive Schau der Dinge, der Phänomene. Es gehe darum, von der Erfahrung der Wirklichkeit zu einem Bewusstsein dieser Wirklichkeit und damit zu einer richtigen Erkenntnis zu gelangen. Edith Stein war gefesselt von dieser Vorgehensweise. Nun zählten aber auch die religiösen Wirklichkeiten zu den Phänomenen und konnten nicht einfach ausgeklammert und ignoriert werden. Edith Stein, die mit vierzehn Jahren aufgehört hatte, den jüdischen Glauben zu praktizieren – in der großen Familie Stein war nur die Mutter gläubige Jüdin –, musste ihnen begegnen. Zudem lernte sie Max Scheler kennen, einen Phänomenologen, der zum katholischen Glauben konvertiert war und mit beredten Worten z.B. die Schönheit und Erhabenheit der katholischen Liturgie pries.
Im Januar 1915 bestand Edith Stein das Staatsexamen mit Auszeichnung.

Im selben Jahr treffen wir sie bei einem freiwilligen Lazarettdienst in Mähren an. Als das Lazarett aufgelöst wurde, kehrte sie im September 1915 nach Breslau zurück. Sie arbeitete an ihrer Dissertation „Zum Problem der Einfühlung" und übernahm 1916 die Vertretung für einen erkrankten Lehrer an der Viktoriaschule, der Schule, die sie einst als Schülerin selbst besucht hatte.
Im August 1916 wurde sie an der Universität Freiburg, an die ihr Doktorvater Husserl übergewechselt war, mit „Summa cum laude" zum Dr. phil. promoviert.

Die folgenden zwei Jahre verbrachte Edith Stein in Freiburg als wissenschaftliche Assistentin von Edmund Husserl. Bloße Assistententätigkeit konnte sie jedoch auf die Dauer nicht befriedigen. Ihr Ziel war es, sich selber an der Universität zu habilitieren, und so arbeitete sie an ihrer Habilitationsschrift. Doch alle Habilitationsbemühungen scheiterten. Die Barrieren waren zu hoch. Sie war eine Frau und dazu noch Jüdin.

Fassen wir zusammen:
Wir haben in Edith Stein eine hochbegabte junge Frau jüdischer Abstammung vor uns, die ihr Universitätsstudium sehr erfolgreich abgeschlossen hat. Alle Bemühungen, die Universitätslaufbahn selbst zu beschreiten, scheiterten jedoch. Sie musste nun hinsichtlich der Gestaltung ihres weiteren Lebensweges Entscheidungen treffen.

Gertraud von Bullion wuchs ebenfalls in einer kinderreichen Familie auf. Ihr Vater, Arthur Graf von Bullion, war Offizier. Er stammte von einem alten französischen Adelsgeschlecht ab. Julius Graf von Bullion, der Bruder von Graf Arthur, verfasste im Jahre 1922 eine Familiengeschichte als Geburtstagsgeschenk für den Senior der Familie. In langjähriger Quellenforschung wies er nach, dass das Geschlecht derer von Bullion einst in der Auvergne, im Departement Puy de Dome, beheimatet war.
Die ersten namentlich Genannten sind zwei Brüder: Testard und Gerard de Bulhon (1060). Das Geschlecht der Grafen von Bulhon teilte sich früh auf in einen Zweig der Auvergne und in einen burgundischen Zweig.
Der erstere erlosch mit der Französischen Revolution; ein Mitglied des burgundischen Zweiges hatte 1809 Zuflucht im Königreich Württemberg gesucht.
Guy Heinrich Joseph Albert Arthur Graf von Bullion wurde am 19.7.1852 in Zwiefalten in Württemberg geboren. Er durchlief die Laufbahn eines Offiziers. Am 18.12.1895 treffen wir ihn als „Hauptmann im Stabe des kgl. Feld-Artillerieregiments" in Augsburg an. 1905 wurde er hier zum Oberstleutnant z. D. und Bezirkskommandeur befördert. Augsburg war seit 1806 Garnisonsstadt.

Arthur Graf von Bullion war mit Maria Theresia Hubertine Startz, der Tochter eines Weingroßhändlers aus Aachen in der Rheinprovinz Preußen, verheiratet.

Mit seiner Frau, zwei Söhnen und drei Töchtern bezog Arthur Graf von Bullion im Jahre 1897 eine große Wohnung im sogenannten Kellerhaus am heutigen Hohen Weg Nr. 8 in Augsburg.

Die Tochter Maria Wilhelmine Johanna Gertraud war als viertes von sechs Kindern am 11. 9. 1891 in Würzburg zur Welt gekommen. Sie besuchte von 1897 bis 1906 die Höhere Mädchenschule der Englischen Fräulein in Augsburg. Diese lag in der Nähe der elterlichen Wohnung. Anschließend schickten die Eltern sie zur Abrundung ihrer Bildung auf drei ausländische Internate: das „Sacré-Coeur in Riedenburg" bei Bregenz, Österreich, danach ins „Sacré-Coeur Fontaine l'Evêque" in Belgien und anschließend nach England zum „Convent of Sacred Heart" in Leamington.
Hier erhielt das junge Mädchen sozusagen den letzten Schliff. Gertraud wusste nun, wie sich eine gebildete „höhere Tochter" zu benehmen hat, sie sprach und korrespondierte in Französisch, lernte die englische Sprache, spielte Klavier, konnte sehr schön singen – ihr glockenreiner Sopran wird mehrmals lobend erwähnt –, spielte Theater, konnte zeichnen und malen; und natürlich beherrschte sie auch verschiedene Handarbeitstechniken.

Im Jahre 1909 ins Elternhaus zurückgekehrt, wurde sie nun in die Gesellschaft eingeführt. Der Vater hielt Ausschau nach einem geeigneten Mann für die groß gewachsene, hübsche und gebildete Tochter. Und bald stellten sich auch Bewerber ein. Gertraud aber zeigte sich dem Wunsche ihres Vaters gegenüber abgeneigt. Sie wollte Missionsschwester werden. Diesem Wunsch der Tochter stand der Vater jedoch ablehnend gegenüber. Graf Arthur war zwar katholisch, aber er praktizierte seinen Glauben nicht. Er hatte eine völlig andere Vorstellung hinsichtlich der Zukunft seiner Tochter. Auch eine Berufsausbildung, etwa auf musikalischer Ebene, die Gertraud erwogen hatte, kam für den Grafen allem Anschein nach nicht in Frage. Die beiden Schwestern Irma und Hedwig zeigten sich da gefügiger. Irma heiratete 1913 den Leutnant Alfred Jodl; die jüngere Schwester Hedwig, der Gertraud in tiefer geschwisterlicher Liebe ihr ganzes Leben lang verbunden war, ehelichte im Jahre 1914 den 22 Jahre älteren Freiherrn von Lupin.

So blieb Gertraud bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu Hause in Augsburg, in der elterlichen Wohnung in der Nähe des Domes.
Die Erziehung bei den Englischen Fräulein schien Gertraud in religiöser Hinsicht tief geprägt zu haben.
Besonders groß war wohl der Einfluss ihres Religionslehrers Anton Hauser.
Hauser, geb. 1840, war von 1868 bis zu seinem Tode 1913 als Religionslehrer bei den Englischen Fräulein in Augsburg tätig. Auf seine Initiative hin entstanden in Augsburg und Haunstetten zwei „Christlich-soziale Arbeitervereine". Mit großer Sorge verfolgte er das Anwachsen der Sozialdemokratie. Den Zweck von katholischen Arbeitervereinen sah er in wirtschaftlicher Unterstützung der Arbeiter durch Kranken- und Sterbekassen, in religiös-sittlicher Unterweisung und in einer guten Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern. Hauser war Begründer des „Katholischen Arbeitervereins" der Diözese Augsburg und von 1896 bis 1908 dessen Präses.

Die Jahre 1909 bis 1914 verbrachte Gertraud zu Hause. In dieser Zeit sehen wir sie jeden Morgen in der Frühmesse bei den Kapuzinern von St. Sebastian. In England hatte sie sich angewöhnt, jeden Tag zur heiligen Kommunion zu gehen. Hier war sie auch Mitglied der „Marianischen Kongregation" geworden: Sie wählte sich nur ein einziges Wort als Wahlspruch: „Serviam“ – die Königsdivise –, „Dienen will ich".
Einmal äußerte sie sich dahingehend, dass es eine individualistische und eine sozial gefärbte Frömmigkeit gebe, und sie stellte fest: „Unsere muss sozial gefärbt sein.“ In St. Sebastian in Augsburg schloss sie, die adlige Grafentochter, sich einer Kongregation an, die sich überwiegend aus Dienstmädchen und Arbeiterinnen zusammensetzte. Dürfen wir in ihrem Wahlspruch und ihrem Anschluss an eine Kongregation von jungen Frauen, die nicht Mitglied ihres Standes sind, vielleicht noch den Einfluss von Anton Hauser sehen?

Auch der Rat ihres Beichtvaters, des Kapuzinerpaters Facundus Bilz, sollte nicht außer Acht gelassen werden.
P. Facundus war 1878 in München geboren. Nach Besuch eines Gymnasiums trat er in den Kapuzinerorden ein. Von 1908 bis 1911 wirkte er im Kapuzinerkloster St. Sebastian in Augsburg. Sein Aufgabengebiet könnte man mit „Großstadtseelsorge" umschreiben.
Wenn Gertraud jeden Morgen zur Frühmesse nach St. Sebastian ging, wurde sie manchmal von der langjährigen Haushälterin der Familie, Fräulein Betz aus Regensburg, begleitet. Diese berichtet, dass sie und Gertraud Pater Facundus oft als den „guten Schnee“ bezeichneten, weil er so rein wie Schnee gewesen sei und die Gottesnähe dieses frommen Priesters spürbar war.
Die beiden Frauen hatten auch die Erlaubnis erhalten, den Antonius- und den Muttergottesaltar in St. Sebastian zu schmücken, eine Aufgabe, die Gertraud bei ihrer großen Liebe zu den Blumen voller Freude übernahm. In der Kongregation in St. Sebastian arbeitete sie sehr aktiv mit.
Warum Gertraud fünf wertvolle Jugendjahre zu Hause verbrachte, wissen wir nicht. Möglicherweise fehlte für die angestrebte Berufsausbildung das Geld. Die Offiziersausbildung der beiden Söhne war kostspielig, und wahrscheinlich verursachten auch die Beschaffung der Aussteuer und das Ausrichten der Hochzeiten der beiden Töchter Irma und Hedwig erhebliche Kosten. Vielleicht sah sich Gertraud vor die Notwendigkeit gestellt, der kränkelnden Mutter zur Hand zu gehen. Den Gedanken an ein Ordensleben in der Mission hatte sie jedenfalls nicht aufgegeben, sondern nur aufgeschoben, wie wir aus späteren Äußerungen wissen.

Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wollte die Offizierstochter auch ihren Dienst für das Vaterland leisten. Die beiden Brüder und der Onkel Julius standen als Offiziere im Feld; der Vater nahm nicht mehr aktiv am Kriegsgeschehen teil. Gertraud unterzog sich zunächst in Augsburg der Ausbildung zur Pflegeschwester. 1915 leistete sie zuerst Bahnhofsdienst in Ulm und Augsburg; dann begleitete sie Lazarettzüge von der Ostfront. Sie sah die ersten Kreuze für die gefallenen deutschen Soldaten errichtet und sprach von deren „selbstlosem Heldentum". Vom September 1915 bis Kriegsende im November 1918 tat sie dann Dienst in verschiedenen Lazaretten an der Westfront.

Wie schwer dieser Lazarettdienst war, davon können wir uns heute kaum mehr eine Vorstellung machen. Die Verwundeten kamen oft direkt vom Verbandplatz in das Lazarett. Hören wir Gertraud selbst. Sie ist noch nicht mal zwei Wochen im Lazarett in Cambrai:
„Als ich mit noch einer Schwester am 25. (September 1915) abends 9 Uhr heim ins Quartier gehen wollte, wurde eben ein Transport von ca. 100 bis 120 Verwundeten gemeldet. Niemand war da, sie in Empfang zu nehmen. Rasch entschlossen stellten wir uns zur Verfügung; wir hatten gut daran getan. Gegen 110 Mann kamen in der Zeit zwischen 11 und 2 Uhr, aber in welchem Zustand, durchnässt, von oben bis unten voll Lehm, durchblutet, größtenteils nur mit Notverbänden. Ach, und wie dankbar waren die Leute für den kleinsten Griff, die kleinste Hilfe. Soweit es möglich war, wuschen wir die Armen, gaben allen zu essen und zu trinken, verbanden die schlimmsten und legten sie, solange wir noch Betten hatten, in Betten, dann auf Strohsäcke und Decken auf den Boden. Es war das erste Mal, dass wir die Verwundeten direkt vom Verbandplatz bekamen, und noch heute sind mir diese traurigen Gestalten und der Geruch der frischen Wunden gegenwärtig" (45 f.). Zeitweilig übertrug man ihr auch die Betreuung erblindeter oder auch nervenkranker Soldaten. Hier bedurfte es eines großen Einfühlungsvermögens. Neun Monate versah sie den gefürchteten Dienst in der Wäschekammer, vielleicht liegt hier auch der Keim zu ihrer späteren Krankheit.

Neben der Sorge für die Verwundeten lag ihr ganz besonders deren seelisches Heil am Herzen. So half sie dem Feldgeistlichen bei der Vorbereitung und Gestaltung der Gottesdienste, richtete im jeweiligen Lazarett mit Freuden eine kleine Kapelle ein, wenn dies möglich war, und organisierte einen Schwesternchor. Manchmal schlossen sich auch verwundete Soldaten und Sanitäter diesem Chor an. Auf diese Weise kam sie mit Frater Salzhuber in Kontakt und auch mit Nikolaus Lauer, einem späteren Schönstattpriester, Schriftsteller und Redakteur der Speyerer Kirchenzeitung, dem sie zeitlebens verbunden blieb. (Er kannte auch Edith Stein gut; er war Religionslehrer am Magdalenen-Gymnasium in Speyer und somit ihr Kollege.)
Von diesen Männern hörte Gertraud von Bullion zum ersten Mal von Pater Kentenich und dem Gründungsereignis von Schönstatt und seiner Idee der religiös-sittlichen Erneuerung.

Vier Jahre sind lang; aber Gertraud hielt durch; schließlich war sie ja eine Offizierstochter.
„Ehrfurcht vor Gott, gläubiger Sinn, ernste Lebensauffassung, Liebe zum Vaterland und zur Volksgemeinschaft", solche Eigenschaften erwartete beispielsweise Generalleutnant Danner bei einer Jubiläumsansprache anlässlich eines Augsburger Garnisonstages von der deutschen Jugend. Gertraud wies diese erwünschten Eigenschaften in einem reichen Maße auf.

Nach Kriegsende kehrte sie in das Elternhaus zurück. Die Nachkriegszeit brachte große Schwierigkeiten für die Grafenfamilie von Bullion. Die Mutter war bereits 1916 gestorben. Die beiden Brüder hatten ihren Dienst quittiert. Der ältere Bruder Gottfried lag krank darnieder; er hatte sich im Feld ein Lungenleiden geholt. Gertraud pflegte ihn und später den leidenden Vater zusammen mit der getreuen Haushälterin Betz.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges war die alte ständische Ordnung dahin. In Bayern rief im November 1918 Kurt Eisner den „Freien Volksstaat Bayern" aus. König Ludwig III. musste fliehen. Bayern war Republik geworden. An der Spitze des Staates stand nun ein „Arbeiter- und Soldatenrat". Kurt Eisner wurde im Februar 1919 erschossen. Daraufhin brach vielerorts das Chaos aus – so auch in Augsburg.
Der damalige Bischof Maximilian von Lingg – er war Bischof in Augsburg von 1902 bis 1930; Gertraud wurde von ihm gefirmt – musste um sein Leben fürchten. Die Ermordung von Kurt Eisner sollte an ihm gerächt werden. Der Pöbel erstürmte das Bischofspalais und suchte den Bischof zu ergreifen. Dieser konnte der brutalen Gewalt nur dadurch entkommen, indem er in der Kleidung seines Schwagers durch eine Hintertür das Bischofspalais verließ und zunächst Zuflucht im Augsburger Vincentinum und später in St. Ottilien suchte. Die Wohnung der Familie von Bullion befand sich in allernächster Nähe. Gertraud hat sicher die grölenden Plünderer gesehen, die sich gewaltsam Zugang zum Bischofspalais verschafften und den Bischof an der nächsten Laterne aufknüpfen wollten.
Bischof von Lingg hatte im November 1918 ein Wort der Weisung erlassen, in dem Sätze wie diese zu lesen waren: „Niemand kann im Ernste von uns verlangen, dass wir das Neue, auf dessen Boden wir uns um des Vaterlandes willen stellen, auch mit dem Herzen begrüßen."
Mit dem Herzen begrüßen konnte die Familie von Bullion die Weimarer Republik wohl nicht, auch Gertraud nicht. In einem Brief vom 5. Dezember 1919 an Lauer schrieb sie: „Wissen Sie, dass sich in München eine bayerische Königspartei gebildet hat, die hauptsächlich ihre Mitglieder in Franken und auf dem Land gesammelt hat? Ich fürchte, es ist zu früh, so sehr ich mich freuen möchte" (74).
Julius Graf von Bullion schrieb im Vorwort seiner Familiengeschichte: „Wiewohl der Adel im Staate keinen bevorzugten Stand mehr bildet, seine früheren Vorrechte längst verloren hat und ihm vielfach sogar die Führung des ererbten und berechtigten Adelstitels untersagt ist, so kann sich ein adeliges Geschlecht doch auch fernerhin in Ansehen und Ehren erhalten, wenn es durch Betätigung wahrhaft adeliger Gesinnung, durch Rechtschaffenheit und Bildung den anderen Ständen voranleuchtet im Dienste für die Allgemeinheit und den Staat."
Die Standesvorrechte waren dahin, und auch die finanzielle Situation der Familie von Bullion schien in den Nachkriegsjahren mit der Wertlosigkeit von Kriegsanleihen und der Inflation prekär geworden zu sein. Wie sehr hatten sich doch die Zeiten geändert! Lassen wir einen Zeitzeugen, den Dichter Peter Dörfler, zu Wort kommen. Im Kloster St. Ottilien hielt er 1928 eine Predigt anlässlich des Silberjubiläums seines Weihejahrgangs vom Jahr 1903:
„Nicht dass wir der Vergänglichkeit Zeugen sein durften war das Eigene unserer Tage, sondern wir sind Zeugen einer Zeitenwende, wir, die wir 1914, 1918 sahen... Welch neuer Geist hat unsere Jugend, unsere Männer und Frauen ergriffen. Wie ist das Heilige überall verödet, nicht das Gold der Altäre, nicht der Besitz ehrwürdiger Kultstätten wie ehedem: eine Säkularisierung der Volksseele des Abendlandes hat eingesetzt... Die Säkularisierung wirkt anonym und nimmt mit schleichender Hand Sitte um Sitte weg, christlichen Gruß, christlichen Schmuck der Stube, des Wegrains, und sie arbeitet so still und unauffällig, dass man sich rückschauend wundert, was alles bis in die Sprache des Volkes hinein profaniert worden ist. Im Zeichen einer Wende stehen wir."

Im Zeichen einer Wende stehen wir. Gertraud hatte schon in den letzten Monaten an der Front davon gesprochen, wie viele Menschen sich zu ihrem Nachteil verändert hätten, was nun in der Nachkriegszeit offen zutage trat. Egoismus und Gewinnsucht waren allzu oft die Triebfedern des Handelns vieler. „Serviam" – ich will dienen –, so aber lautete ihr Wahlspruch. Gertraud wollte zu einer positiven Gestaltung dieser Wende beitragen.

Im Jahre 1923 erlag der Bruder Gottfried seiner Krankheit. Gertraud stand der Witwe, ihrer Schwägerin, zur Seite und kümmerte sich auch sehr intensiv um ihre Lieblingsschwester Hedwig, die daran litt, dass ihre Ehe kinderlos blieb. 1921 legte Gertraud noch die Diplomprüfung als Krankenschwester ab und musste vor allem wegen der Pflege des kranken Vaters ihr Vorhaben, in die Mission zu gehen, auf eine spätere Zeit verschieben. Dem Augsburger Dompfarrer half sie mit großem Einsatz bei der Vorbereitung der monatlichen Standeskommunionen junger Frauen.

Und immer mehr erwärmte sie sich für die Schönstatt-Bewegung, die bisher nur Männern offen stand. Die Verbindung zu Frater Salzhuber, dem einstigen Sanitäter von der Westfront, war nie abgerissen, und so erfuhr sie im August 1919 von der Gründung des Apostolischen Bundes in Hörde. Sie schrieb an Pater Kentenich und ersuchte ihn, die Aufnahme von Frauen in den „Apostolischen Bund" in die Wege zu leiten. Es war ihr erklärter Wunsch, dass Frauen in die Apostolische Bewegung aufgenommen wurden. Am 8. Dezember 1920 erfolgte ihre Aufnahme und die ihrer Kusine Marie Christmann.
Dieser Tag gilt als der Gründungstag der Schönstatter Frauenbewegung.

Gertraud glaubte, nun ihre Lebensaufgabe gefunden zu haben. Apostolat der Frauen, mitten in der Welt leben, an der Hand Mariens intensive Nachfolge Jesu, dafür wollte sie sich, eine noch junge Frau von 29 Jahren, von nun an mit der ganzen Kraft ihres Verstandes und Herzens einsetzen.
Doch da traf sie das Kreuz mit seiner ganzen Schwere. Es zeigten sich die ersten Anzeichen einer schweren Erkrankung der Lunge. 1921 unterzog sie sich für mehrere Monate einer Kur in Bad Lippspringe. Sie musste lange Liegekuren auf sich nehmen und wäre doch so gerne tatkräftig in ihr neues Aufgabengebiet, die Schönstatt-Bewegung, eingestiegen. Während dieser Kur fuhr sie im August 1921 zur ersten Frauentagung nach Schönstatt.

In Edith Stein hatte sich ungefähr zur gleichen Zeit ein großer Wandel vollzogen. Am 1. Januar 1922 wurde sie in der katholischen Kirche in Bergzabern in der Pfalz getauft. Was hatte sie, die Jüdin, die bisher bei Angaben betreffs ihrer Religionszugehörigkeit seit ihrer Schulzeit „ohne Konfession" geschrieben hatte, dazu bewogen, katholisch zu werden?

In den Sommerferien 1921 treffen wir sie im Haus ihrer Freundin Hedwig Konrad-Martius an. Bei diesem Besuch fiel ihr ein Buch über das Leben der heiligen Theresia in die Hand. In diesem Buch wird das Leben der Heiligen, vor allem ihr Weg zu Gott, beschrieben. Dieses Buch beeindruckte Edith Stein zutiefst. Sie schreibt, dass es ihrem langen Suchen nach dem wahren Glauben ein Ende gemacht habe. Schon vorher war ihr das Christentum aufgeleuchtet. Zunächst in den Worten des Philosophen Scheler, der von einer ungemeinen Begeisterung für die katholische Kirche erfüllt war. Dann aber vor allem in der Begegnung mit Anne Reinach. Deren Mann Adolf Reinach, ein Kollege von Edith Stein, den sie sehr schätzte, war 1917 an der Westfront gefallen. Professor Husserl bat Edith Stein, den philosophischen Nachlass von Reinach zu ordnen. Ihr graute vor der Begegnung mit einer wohl verzweifelten jungen Witwe. Und dann musste sie erleben, wie Anne Reinach, eine gläubige Protestantin, den Tod des geliebten Mannes in der Kraft des Kreuzes mit großer Gefasstheit ertrug. Edith war zutiefst von der Kraft dieses Glaubens beeindruckt.

Am 1. Januar 1922 wurde Edith auf den Namen Edith Theresia Hedwig getauft. Am folgenden Tag empfing sie die erste heilige Kommunion. Einen Monat später wurde sie gefirmt. Nun wollte sie, nach dem Vorbild der großen Theresia, in ein Karmelkloster eintreten.

Ihre geistlichen Berater aber waren der Meinung, dass es besser wäre, diesen Schritt aus zwei Gründen zurückzustellen. Einmal sollte sie ihrer betagten Mutter diesen Schmerz ersparen. Schon bei der Konversion ihrer geliebten jüngsten Tochter zum katholischen Glauben, und damit dem Abfall vom Glauben der Väter, war sie, die ansonsten so starke Frau, die man nie hatte weinen sehen, in Tränen ausgebrochen. Zum andern sei es nötig, zunächst einmal in der katholischen Welt „heimisch“ zu werden. So nahm sie eine Stelle als Lehrerin am Mädchenlyzeum und an der Lehrerinnenbildungsanstalt der Dominikanerinnen von St. Magdalena in Speyer an. Von 1923 bis 1931 unterrichtete sie hier Deutsch und Geschichte. Daneben hielt sie in verschiedenen Städten Vorträge. Den Schwerpunkt bildete hierbei das Thema „Frauenbildung". Auch bei den Salzburger Hochschulwochen treffen wir sie als Gastrednerin an. Sie übersetzte auch die „Questiones" des Thomas von Aquin. 1932 nahm sie einen Ruf als Dozentin an das „Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik" in Münster an.

Im April 1933 wurde sie, die Jüdin, durch einen Regierungserlass aus dieser Stellung entlassen. Nun konnte sie endlich ihren großen Wunsch verwirklichen: Sie trat in den Karmel zu Köln ein. Am 15. April 1933 wurde sie als „Schwester Benedicta a Cruce" eingekleidet.1935 legte sie die zeitlichen Gelübde ab, 1938 die ewigen Gelübde. Um den Orden in Köln nicht zu gefährden, denn für die Nazis war und blieb sie Jüdin, übersiedelte sie am 31. Dezember 1938 in das Karmelitinnenkloster zu Echt in den Niederlanden. Hier fand sie Zeit für ihre wichtige Schrift: „Endliches und Ewiges Sein".

Am 26. Juli 1942 verlas man in den niederländischen katholischen Kirchen einen Hirtenbrief der niederländischen Bischöfe, in welchem diese die Deportation der holländischen Juden verurteilten. Als Vergeltungsmaßnahme wurden eine Woche später, am 2. August 1942, alle Katholiken jüdischer Abstammung verhaftet und in das Durchgangslager Amersfort und am 4. August nach Westerbork verbracht. Am 7. August erfolgte deren Deportation mittels eines Güterzuges nach Auschwitz. Mit größter Wahrscheinlichkeit wurden die ca. 900 Deportierten, darunter Edith Stein und ihre Schwester Rosa, nach der Ankunft des Zuges am 9. August im Vernichtungslager Birkenau vergast.

Edith Stein hatte in ihrem Testament ihr Ja zu dem Tode gesagt, den Gott ihr auferlegen würde. „Benedicta a Cruce" – die vom Kreuz Gesegnete, diesen Namen hatte sie sich erwählt. Sie bot Gott ihr Leben an, damit er dafür das Kreuz von ihrem jüdischen Volke nehmen und es ihr aufladen möge. Sie liebte ihr Volk von ganzem Herzen. „Er (Jesus) ist deines Blutes", sagte sie sich oft vor dem Tabernakel. Wie Jesus gehörte auch Maria dem jüdischen Volk an, und dies bedeutete ihr unendlich viel.

Auch Gertraud von Bullion bot Gott ihr Leben an. Ihr ging es um das Ziel der Schönstatt-Bewegung, die religiöse Erneuerung. 1922 brach ihre Krankheit erneut aus: vom Februar bis zum Oktober weilte sie zur Kur in Schömberg im Schwarzwald. In den nächsten drei Jahren hatte es den Anschein, dass Gertraud ihre Krankheit meistern könnte. Es waren Jahre großer Schaffenskraft, Jahre des Aufbaus der Schönstatt-Frauenbewegung. Wiederholt weilte sie in Schönstatt, um an verschiedenen Tagungen teilzunehmen. 1925 weihte sie sich, zusammen mit 19 anderen Frauen, auf ewig der Gottesmutter von Schönstatt.

Im Januar 1926 erlag der Vater, Arthur Graf von Bullion, seinem Herzleiden. Bei Gertraud kam es zu einem weiteren Krankheitsschub. Wiederum musste sie für Monate das Sanatorium in Schömberg aufsuchen. Am 9. Juni 1927 war es ihr trotzdem möglich, an der Grundsteinlegung des Bundesheimes in Schönstatt teilzunehmen, im August 1928 an dessen Einweihung. Ostern 1929 weilte sie das letzte Mal in Schönstatt.

Im August 1929 musste sie das Krankenhaus in Geislingen aufsuchen, danach kehrte sie zu einem kurzen letzten Besuch nach Augsburg zurück. Ab dem 1. Oktober treffen wir sie im Krankenhaus „Wilhelmstift" in Isny an. Dieses Krankenhaus sollte sie nun bis zu ihrem Tode nicht mehr verlassen. Ihr Zustand verschlechterte sich zusehends. Vom Januar 1930 an hatte sie ständig hohes Fieber. Sie magerte immer mehr ab, ihre Kräfte schwanden dahin. Sie hatte Gott ihr Leben für das Gedeihen des Apostolischen Bundes angeboten. Besonders Bayern lag ihr sehr am Herzen. In ihrem Heimatland hatte sich der Aufbau einer Schönstatt-Frauengemeinschaft als sehr schwierig erwiesen. Viele Frauen waren hier in bereits bestehende Kongregationen und Vereine eingebunden und sahen keine Notwendigkeit, sich der jungen Schönstatt-Frauenbewegung anzuschließen. Im April 1930 erneuerte Gertraud ihre Lebensweihe.

Nach einem schweren Todeskampf gab sie am 11. Juni 1930 ihr Leben in Gottes Hände zurück. Am 13. Juni 1930 wurde sie zu Grabe getragen. Nur 38 Jahre alt war sie geworden.

Zu Beginn hörten wir von äußeren Gemeinsamkeiten im Leben dieser beiden großen Frauen.
Wie steht es nun um die inneren Gemeinsamkeiten? Ist der Lebensweg dieser beiden Frauen nicht sehr verschieden? Kann man hier überhaupt von Gemeinsamkeiten sprechen?
Hier Edith Stein: die Jüdin, die Philosophin, die Karmelitin, die in der Gaskammer von Auschwitz endet...
Da Gertraud von Bullion: die Offizierstochter, deren Leitmotiv „Serviam" heißt, das sie vier Jahre im Lazarettdienst, dann in der Familie und vor allem beim Aufbau der Schönstatt-Frauengemeinschaft zu verwirklichen sucht...
Und doch – es bestehen tiefe innere Gemeinsamkeiten.

Schon in manchen Charaktereigenschaften ähneln die beiden Frauen einander. Beide zeichnet eine ungeheure Selbstdisziplin aus. Stets sind sie bereit, ihr eigenes Ich zugunsten ihrer Mitmenschen zurückzustellen. Beide widmen sich ihren jeweiligen Aufgaben mit beeindruckender Geradlinigkeit, mit starker Willenskraft und Zielstrebigkeit. Beide sind persönlich anspruchslos, beide bevorzugen eine einfache Lebensweise. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Wahl der Kleidung. Beiden geht es darum, dass Frauen am Aufbau der Gesellschaft, am Dienst der Kirche verantwortlich mitwirken.
Beiden Frauen eignet ein starkes Einfühlungsvermögen.

Bei Edith Stein fällt auf, dass sie sich sehr intensiv um ihre Geschwister, Nichten und Neffen kümmerte, sich auf der Universität in ihre Kommilitonen und später im Karmel in ihre Mitschwestern hineindachte. Als sich z.B. zeigte, dass sie auch in Holland nicht sicher vor den Nazischergen war, knüpfte ihr Orden Verbindungen mit einem Schweizer Kloster an. Man bot Edith die Aufnahme an, nicht aber ihrer Schwester Rosa, die als Pförtnerin im Karmelkloster zu Echt Dienst tat. Doch Edith wollte ihre Schwester Rosa nicht im Stich lassen. Und so blieb sie in Echt und schlug damit ihre Rettung aus.
Das Studium der Phänomenologie erwies sich hier als förderlich. Wie an früherer Stelle erwähnt, lautete der Titel ihrer Dissertation: „Zum Problem der Einfühlung".

Was Gertraud betrifft, so kümmerte sie sich liebevoll um die kränkelnde Mutter, den herzkranken Vater, den dahinsiechenden Bruder. Sie war Stütze für ihre Schwester Hedwig, die sie immer wieder anregte, sich um Bedürftige zu kümmern. Auch beim Aufbau der Schönstatt-Frauengemeinschaft war sie für ihre Bundesschwestern immer da. Wie groß ihr Einfühlungsvermögen war, zeigte sich auch darin, dass man ihr bei ihrem Dienst im Lazarett „schwierige Fälle" anvertraute. Wenn man damals etwa einem Verwundeten die Augenbinde abnahm und diesem dann bewusst wurde, dass sein Augenlicht wohl für immer dahin war, dann stand Gertraud an der Seite des Verzweifelten.

Doch am wichtigsten ist wohl dies:
Beide sind zutiefst fromme Frauen; sie leben ganz aus der Verbindung mit Gott heraus. Beide folgen mit großer Geradlinigkeit dem Anruf Gottes: „Mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen." Beide sind in inniger Gemeinschaft mit dem eucharistischen Herrn verbunden. Beide zeichnet eine tiefe Verehrung der Mutter Jesu aus. Und beide sehen ihr Leben in der Kreuzesnachfolge Christi: für Edith ist es der Tod in der Gaskammer, für Gertraud das Sterbelager in Isny. Beide bieten Gott ihr Leben an: Edith für ihr jüdisches Volk und Gertraud für die Sendung der Schönstatt-Frauenbewegung.

Und auf beide trifft das Wort von Harald Schmidt zu: Das Leben war für sie nur eine Durchgangsstation. „Sub specie aeternitatis" – unter dem Blickwinkel der Ewigkeit sahen diese beiden großen Frauen ihr Leben, von denen die eine, Edith Stein, bereits die Ehre der Altäre erreicht hat und wir dies von der anderen, Gertraud von Bullion, erhoffen.